Rachim Gajnulin, Petr Schumichin

1919–2008 &
1923–2011

Gajnulin Schumichin
Rachim Gajnulin (links) vor der Schule, die er von 1974 bis 1980 geleitet hat, um 1982. Petr Schumichin (rechts), ein Buch lesend, ohne Datum.
© Lidia Indukaewa / © Lidia Indukaewa

Rachim Gajnulin

Rachim Gajnulin kommt im Dezember 1919 im Dorf Nurkaj in der russischen Region Tomsk zur Welt. Er stammt aus einer Bauernfamilie. Nach seiner siebenjährigen Schulausbildung besucht er die pädagogische Lehranstalt in Tomsk. Ab Herbst 1938 unterrichtet er an einer Volksschule.

Er wird zur Armee einberufen und erhält nach seiner militärischen Ausbildung den Rang eines Leutnants. Wenige Wochen nach Kriegsbeginn 1941 gerät er bei Kämpfen um Libau in deutsche Gefangenschaft. Er wird ins Deutsche Reich gebracht und schließlich dem Arbeitskommando 10022 bei der Eisenwerk Nürnberg AG zugeteilt. Hier lernt er Petr Schumichin kennen, mit dem zusammen ihm 1944 die Flucht gelingt.

Petr Schumichin

Petr Schumichin wird im Sommer 1923 in dem kleinen Dorf Salesowo in der russischen Region Altai geboren und wächst dort in einer Arbeiterfamilie auf. Nach Beginn des Krieges durch den Überfall der deutschen Wehrmacht 1941 wird er einberufen und absolviert die Infanterieschule. Im Sommer 1942 wird er zum Unterleutnant ernannt. Bei Kämpfen um die Rückeroberung der Stadt Subzow im August 1942 wird er verwundet und gerät in deutsche Gefangenschaft.

Im März 1943 kommt er in das Stalag XIII D Nürnberg-Langwasser und muss fortan im Arbeitskommando 10022 bei der Eisenwerk Nürnberg AG schwere Arbeiten verrichten. Zusammen mit Rachim Gajnulin und fünf weiteren Gefangenen wagt er im Sommer 1944 die Flucht – sie glückt.

Deutsches Kriminalpolizeiblatt Uni Muenster
Fahndungsaufruf vom 5. August 1944 nach sieben sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Arbeitskommando 10022 beim Eisenwerk Nürnberg. Unter den Gesuchten befinden sich auch Petr Schumichin und Rachim Gajnulin. In den nachfolgenden Sonderausgaben zum „Deutschen Kriminalpolizeiblatt“ wird unter der Rubrik „Teilerledigungen“ vermeldet, dass einige der Flüchtigen wiederergriffen wurden. Am 9. September 1944 gelten nur noch Petr Schumichin und Rachim Gajnulin als flüchtig.
© Universitäts- und Landesbibliothek Münster
 

„Jede Woche kam ein Vertreter der Fabrik ‚Eisenwerk‘ zu uns und nahm Leute für die Arbeit mit. Ich war damals 19 Jahre alt, meine Wunden waren noch nicht verheilt, trotzdem nahmen sie mich zu dieser Fabrik mit. Dort arbeiteten Offiziere vom Leutnant bis zum Oberst, insgesamt 250 Personen. Ich dachte die ganze Zeit darüber nach, wie ich von dort fliehen könnte, überlegte mir auch, welche Kameraden ich in meine Pläne einweihen könnte, damit ich nicht allein fliehen müsste. … Dank der Hilfe unseres [deutschen] Kameraden Schwarz – er gab uns einen Kompass, eine Zange und eine Landkarte – und eines weiteren deutschen Genossen (seinen Namen weiß ich leider nicht mehr) bereiteten wir uns auf die Flucht vor. Mithilfe des Werkzeugs schnitt ich eine Öffnung in die Barackenwand (im Inneren der Baracke war die Öffnung nicht zu sehen, da ein Schrank davor stand), dann machten wir uns Gummisohlen, die wir mit Riemen an den Füßen befestigten, damit die Hunde unsere Spur nicht aufnehmen konnten – und los gingʼs.“ Brief von Petr Schumichin an den Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI e. V., Oktober 2009

KV Anklage Dokumente Fotokopien PS 1650 0001
Die Flucht der sieben Kriegsgefangenen findet zu einem Zeitpunkt statt, als auf Fluchtversuche von Offizieren die Todesstrafe steht. Anfang März 1944 erlassen Geheime Staatspolizei und Wehrmacht einen Befehl, der vorschreibt, wiederergriffene flüchtige Offiziere in das Konzentrationslager Mauthausen zu überstellen und dort zu erschießen. Der sogenannte „Kugel-Erlass“ ist nicht überliefert, aber Schriftwechsel, die sich wie dieses Fernschreiben von Gestapo-Chef Heinrich Müller vom 4. März 1944 hierauf beziehen.
© Staatsarchiv Nürnberg, KV-Anklage-Dokumente-Fotokopien_PS-1650
Amtsgerichtsgefangnis Schwandorf 2 0001
Eintrag ins Gefangenenbuch des Amtsgerichtsgefängnisses in Schwandorf mit der Überstellung von Feodor Seikin am 13. August 1944. Der Offizier Feodor Seikin ist zusammen mit Petr Schumichin und Rachim Gajnulin aus dem AK 10022 geflohen und nach wenigen Tagen wieder gefangen genommen worden. Am 29. August 1944 wird er nach Mauthausen überstellt. Über das Schicksal der anderen wiederergriffenen Offiziere ist bislang nichts bekannt. Es ist davon auszugehen, dass auch sie ermordet wurden.
© Staatsarchiv Amberg, Amtsgerichtsgefängnis Schwandorf 2_0001

„Es waren viele, die in alle Richtungen flüchteten. Wir – ich und mein Kamerad Schumichin Petr Lasarewitsch, den ich Anfang 1943 im Lager kennengelernt hatte – flüchteten unter den ersten und hielten zusammen. In der ersten Nacht liefen wir ins Landesinnere, nach Süden und nicht nach Osten. In der Früh gelangten wir in ein Weizenfeld. Wir lagen dort bis zur Dämmerung, rissen Kornähren, nahmen Körner heraus und aßen sie. Auch weiterhin bewegten wir uns nach Osten und nur nachts. Wir ernährten uns von dem, was wir finden konnten: von Früchten von den wilden Pflaumen- und Apfelbäumen am Straßenrand, von Gemüse aus Gemüsegärten am Rande der Dörfer. Einmal stahlen wir eine Ziege, sie weidete hinter einem kleinen Dorf am Waldrand.“
Erinnerungen von Rachim Gajnulin über seine und Petr Schumichins Flucht aus dem Deutschen Reich

Als ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener muss Rachim Gajnulin sich nach Kriegsende einer Überprüfung unterziehen, da Überlebende unter Kollaborationsverdacht stehen. Nachdem er die „Filtration“ überstanden hat, kann er noch 1945 in seine Heimat zurückkehren. Er gründet eine Familie und wird für fast fünfzehn Jahre Lehrer an der allgemeinbildenden Schule in Krasnyj Jar. Nach Abschluss seines pädagogischen Fernstudiums ist er an unterschiedlichen Schulen Direktor. Er stirbt 2008 im Alter von 88 Jahren.

Auch Petr Schumichin durchläuft nach Kriegsende eine staatliche Prüfung. Wie viele Rückkehrer aus deutscher Gefangenschaft muss auch er mehrere Jahre Zwangsarbeit in den stalinistischen Lagern des Gulag verrichten, um sich zu „bewähren“. Anfang der 1950er Jahre kehrt er in seine Heimat zurück, gründet eine Familie und findet Arbeit in einem Bergwerk. Er stirbt 2011 im Alter von 88 Jahren.

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Petr Schumichin mit seiner Ehefrau Anastasia Timofeewna und ihren gemeinsamen Kindern, 1958/59
© Lidia Indukaewa
003 Petr Lasarewitsch Und Seine Gattin Anastasia Timofeewna Circa 2005
Petr Schumichin mit seiner Ehefrau, um 2005
© Tamara Schumichina
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Rachim Gajnulin im Kreise seiner Schüler in Krasnyj Jar, 1948
© Lidia Indukaewa
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Rachim Gajnulin mit seiner Ehefrau Maria Gajnulina, 1949/50
© Lidia Indukaewa
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Rachim Gajnulin mit seinen Töchtern Galina und Lidia, 1955
© Lidia Indukaewa
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Petr Schumichin (links) und Rachim Gajnulin (rechts), 1979. Die beiden Fluchtgefährten bleiben ihr Leben lang befreundet, und ihre Familien stehen bis heute in Kontakt.
© Lidia Indukaewa
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Rachim Gajnulin mit Enkeln von Petr Schumichin, 1979
© Lidia Indukaewa

Weitere Biografien