Rachim Gajnulin, Petr Schumichin
1919–2008 &
1923–2011
Rachim Gajnulin
Rachim Gajnulin kommt im Dezember 1919 im Dorf Nurkaj in der russischen Region Tomsk zur Welt. Er stammt aus einer Bauernfamilie. Nach seiner siebenjährigen Schulausbildung besucht er die pädagogische Lehranstalt in Tomsk. Ab Herbst 1938 unterrichtet er an einer Volksschule.
Er wird zur Armee einberufen und erhält nach seiner militärischen Ausbildung den Rang eines Leutnants. Wenige Wochen nach Kriegsbeginn 1941 gerät er bei Kämpfen um Libau in deutsche Gefangenschaft. Er wird ins Deutsche Reich gebracht und schließlich dem Arbeitskommando 10022 bei der Eisenwerk Nürnberg AG zugeteilt. Hier lernt er Petr Schumichin kennen, mit dem zusammen ihm 1944 die Flucht gelingt.
Petr Schumichin
Petr Schumichin wird im Sommer 1923 in dem kleinen Dorf Salesowo in der russischen Region Altai geboren und wächst dort in einer Arbeiterfamilie auf. Nach Beginn des Krieges durch den Überfall der deutschen Wehrmacht 1941 wird er einberufen und absolviert die Infanterieschule. Im Sommer 1942 wird er zum Unterleutnant ernannt. Bei Kämpfen um die Rückeroberung der Stadt Subzow im August 1942 wird er verwundet und gerät in deutsche Gefangenschaft.
Im März 1943 kommt er in das Stalag XIII D Nürnberg-Langwasser und muss fortan im Arbeitskommando 10022 bei der Eisenwerk Nürnberg AG schwere Arbeiten verrichten. Zusammen mit Rachim Gajnulin und fünf weiteren Gefangenen wagt er im Sommer 1944 die Flucht – sie glückt.
„Jede Woche kam ein Vertreter der Fabrik ‚Eisenwerk‘ zu uns und nahm Leute für die Arbeit mit. Ich war damals 19 Jahre alt, meine Wunden waren noch nicht verheilt, trotzdem nahmen sie mich zu dieser Fabrik mit. Dort arbeiteten Offiziere vom Leutnant bis zum Oberst, insgesamt 250 Personen. Ich dachte die ganze Zeit darüber nach, wie ich von dort fliehen könnte, überlegte mir auch, welche Kameraden ich in meine Pläne einweihen könnte, damit ich nicht allein fliehen müsste. … Dank der Hilfe unseres [deutschen] Kameraden Schwarz – er gab uns einen Kompass, eine Zange und eine Landkarte – und eines weiteren deutschen Genossen (seinen Namen weiß ich leider nicht mehr) bereiteten wir uns auf die Flucht vor. Mithilfe des Werkzeugs schnitt ich eine Öffnung in die Barackenwand (im Inneren der Baracke war die Öffnung nicht zu sehen, da ein Schrank davor stand), dann machten wir uns Gummisohlen, die wir mit Riemen an den Füßen befestigten, damit die Hunde unsere Spur nicht aufnehmen konnten – und los gingʼs.“ Brief von Petr Schumichin an den Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI e. V., Oktober 2009
„Es waren viele, die in alle Richtungen flüchteten. Wir – ich und mein Kamerad Schumichin Petr Lasarewitsch, den ich Anfang 1943 im Lager kennengelernt hatte – flüchteten unter den ersten und hielten zusammen. In der ersten Nacht liefen wir ins Landesinnere, nach Süden und nicht nach Osten. In der Früh gelangten wir in ein Weizenfeld. Wir lagen dort bis zur Dämmerung, rissen Kornähren, nahmen Körner heraus und aßen sie. Auch weiterhin bewegten wir uns nach Osten und nur nachts. Wir ernährten uns von dem, was wir finden konnten: von Früchten von den wilden Pflaumen- und Apfelbäumen am Straßenrand, von Gemüse aus Gemüsegärten am Rande der Dörfer. Einmal stahlen wir eine Ziege, sie weidete hinter einem kleinen Dorf am Waldrand.“
Erinnerungen von Rachim Gajnulin über seine und Petr Schumichins Flucht aus dem Deutschen Reich
Als ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener muss Rachim Gajnulin sich nach Kriegsende einer Überprüfung unterziehen, da Überlebende unter Kollaborationsverdacht stehen. Nachdem er die „Filtration“ überstanden hat, kann er noch 1945 in seine Heimat zurückkehren. Er gründet eine Familie und wird für fast fünfzehn Jahre Lehrer an der allgemeinbildenden Schule in Krasnyj Jar. Nach Abschluss seines pädagogischen Fernstudiums ist er an unterschiedlichen Schulen Direktor. Er stirbt 2008 im Alter von 88 Jahren.
Auch Petr Schumichin durchläuft nach Kriegsende eine staatliche Prüfung. Wie viele Rückkehrer aus deutscher Gefangenschaft muss auch er mehrere Jahre Zwangsarbeit in den stalinistischen Lagern des Gulag verrichten, um sich zu „bewähren“. Anfang der 1950er Jahre kehrt er in seine Heimat zurück, gründet eine Familie und findet Arbeit in einem Bergwerk. Er stirbt 2011 im Alter von 88 Jahren.